Rabbinat Nachrichten

In der jüdischen Tradition gibt es zwei zentrale Begriffe, über die oft gesprochen wird: Keva und Kavana. Keva bedeutet das Feste, die feste Form, die festgelegten Worte des Gebets. Kavana bedeutet das Empfundene, die Absicht des Herzens, der innere Funke der Seele.

Oft werden sie als Gegensätze verstanden, ja sogar als Rivalen, die um das Erstgeburtsrecht der Heiligkeit kämpfen. Doch in Wahrheit ist jeder von ihnen eine eigene Welt.

Keva ist nicht nur eine starre Form. Keva ist ein Anker. Es sind die Worte, die unsere Vorfahren durch Generationen von Glauben und Kampf verdichtet haben. Es ist eine Stütze, wenn uns selbst keine Worte kommen. Es ist ein Rahmen, ein Rhythmus, ein Puls. Keva schafft eine grosse Gemeinschaft, die Menschen über Zeit und Raum hinweg verbindet.

Kavana ist nicht nur flüchtige Inspiration. Kavana ist das, was verhindert, dass Worte leer werden, was Ritual in Begegnung verwandelt. Kavana formt uns neu im Augenblick des Sprechens.

Jahrhunderte lang schienen diese beiden in Rivalität zu stehen. Manche sagen: Ohne Keva gibt es keine Tradition, nur Chaos. Andere bestehen darauf: Ohne Kavana gibt es keinen Geist, nur tote Form.

Aber ich glaube, wir können einen mittleren Weg finden, einen heiligen Weg, um diesen scheinbaren Widerspruch zu lösen. Heiligkeit liegt nicht darin, sich für das eine oder das andere zu entscheiden. Heiligkeit entsteht in ihrer Begegnung, im Grenzland.

Das nenne ich Keva-na. Wir sollten uns nicht zwischen Keva und Kavana entscheiden, sondern den Reichtum ihrer Vereinigung umarmen.

So wie diese Tage der Ehrfurcht, diese Pufferzone zwischen den Jahren, die als Schwelle zwischen Leben und Tod gilt, zwischen Glück und Unheil. Wir begegnen uns am Übergang zwischen den Jahren, an der Grenze von Licht und Dunkelheit.

Vielleicht ist Gott, auf dem Richterstuhl sitzend, nicht nur damit beschäftigt, starr Schicksale zu verhängen, Gut von Böse zu trennen, die Gerechten von den Sündern. Gott kann auch sanft zuhören, während wir alle erneut als Zeugen dastehen- und jede Stimme gehört wird.

Denn im wirklichen Leben gibt es kein vollkommenes Cheschbon Nefesch, keine Möglichkeit, das Innere unserer Seele zu subtrahieren und zu teilen. Alles ist miteinander verwoben. Wir stellen uns gegen die Kräfte, die teilen und abgrenzen wollen, gegen die Mächte, die sich weigern, den feinen Stimmen heiliger Einheit zuzuhören.

Möge dieses neue Jahr unsere Herzen für solches Zuhören öffnen, unsere Hände für solches Weben, und unser Leben für solche Heiligkeit. Schanna Tova.

 

Eure,
Rabbi Avigail

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