Rabbinat Nachrichten
![]()
Das hebräische Wort Toldot תּוֹלְדוֹת bedeutet Geschichte/Erzählung/Biografie. In Genesis, dem Buch der Biografien, kommt es achtmal vor, darunter in sehr berühmten Versen wie Genesis 2:4 „Dies ist die Geschichte des Himmels und der Erde, da sie erschaffen wurden“, auch übersetzt als „Das ist die Entstehung der Himmel und der Erde..” und sogar, am genauesten dem hebräischen Ursprung entsprechend: «Dies sind die Zeugungen des Himmels und der Erde..”
Das Wort Toldot, der Name unserer dieswöchigen Parascha, kommt von der Wurzel י.ל.ד y.l.d – „gebären“. Toldot ist ein Konzept, das Geschichte, unsere Lebensgeschichte, als eine Kette von Handlungen und ihren Konsequenzen denkt, von Entscheidungen und den Zukünften, die sie hervorbringen.
Jede Entscheidung, jede Tat, empfängt und gebiert: Aus der Vereinigung von Wirklichkeit und menschlicher Wahl wird eine Chronik geboren: ein Moment zeugt den nächsten Moment, eine Entscheidung zeugt eine Konsequenz, das Leben zeugt eine Geschichte, und eine Geschichte zeugt eine Bedeutung.
Das Judentum ist auf dieser einfachen, radikalen Idee aufgebaut: Wir werden in eine Geschichte hineingeboren, und wir setzen sie fort, indem wir sie erzählen. Generation um Generation verbergen wir die schwierigen Kapitel dieser Geschichten nicht: die Eifersucht der Brüder, manchmal tödlich; die Angst, das Scheitern, die Verrate. Wir erzählen sie gerade deshalb, weil sie die Menschlichkeit unserer Vorfahren offenbaren und weil sie es uns erlauben, unsere eigene zu erkennen.
Eine Bar Mitzwa lebt innerhalb dieser narrativen Bewegung. Sie ist kein Abschluss und keine Ankunftszeremonie, sondern ein Moment, in dem ein junger Mensch in die lange, ununterbrochene Kette der Geschichtenerzähler hineintritt und beginnt, sein eigenes Kapitel zu schreiben und den grösseren Rahmen von Toldot zu interpretieren.
Es ist ein Moment, in dem ein junger Mensch entdeckt, dass er nicht nur aus einer Geschichte geboren ist, sondern nun auch die Verantwortung trägt, diese Geschichte weiterzutragen: sie zu erweitern, sie zu hinterfragen, sie manchmal zu heilen und sie immer durch das Erzählen lebendig zu halten: das Gute wie das Schlechte.
Unsere Gemeinde, ihr alle, nehmt an diesem Vorgang nicht als Zuschauer teil, sondern als Teil der Erzählung selbst. Wir sind ein Haus vieler Sprachen, vieler Biografien, vieler Interpreten. Ein Ort, an dem die jüdische Geschichte übersetzt, erweitert und lebendig gehalten wird, indem wir uns bemühen, dass sie nicht an Relevanz verliert. Hier formt jede neue Stimme die Textur der gemeinsamen Erzählung.
Mit seiner Bar Mitzwa tritt Louis der Gemeinde derer bei, die die Geschichte unseres Volkes halten, erweitern und weitergeben. Und jede und jeder von uns hat darin eine Rolle: zuzuhören, zu antworten, unsere eigenen Zeilen in die sich entfaltende Erzählung einzubringen
Möge dieser kommende Schabbat Toldot uns daran erinnern, dass Leben bedeutet, Handlungen, Bedeutungen und Verantwortungen zu gebären. Möge Louis’ neues Kapitel mit Neugier, Mut und Segen geschrieben werden, wenn er in die lebendige, wachsende Geschichte tritt, die wir alle miteinander teilen.
![]()
