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Das Chaos, das erblüht!

Der heilige Ari sah in Pesach – Pe-Sach: „ein Mund, der spricht“, den Moment, in dem die Sprache zu einem Volk zurückkehrte, das sie durch Jahre der Sklaverei verloren hatte. Der Höhepunkt dieses Prozesses, so glaubte er, ist die Übergabe der Tora – Schawuot -, bei der wir Mischpatim und Dibrot, Gesetze und Äusserungen, die aus der Sprache geboren wurden, erhielten. Wie ein Kind, das sprechen lernt, lernte das Volk Israel, zu denken, zu begreifen, Verantwortung zu übernehmen.

Aber in mir regt sich noch eine andere Stimme – eine Stimme, die sich danach sehnt, gegen diese lineare Lektüre zu rebellieren, gegen dieses Bild von uns, wie wir von der Stimme zum Buch, von der Leidenschaft zum Gesetz schreiten, zugeknöpft und gelassen, korrekt und geschliffen auf unserem Weg zum Sinai.

Ich komme zurück auf Franz Rosenzweigs Beschreibung der göttlichen Offenbarung am Berg Sinai. Er behauptete, dass die Offenbarung eine so gewaltige Kraft ist, dass sie sich nicht in Sprache falten lässt, und dass die Offenbarung selbst aufhörte, bevor der erste Buchstabe des Gesetzes geschrieben wurde – vor dem Aleph von Anochi. Und wenn wir es wagen, die Gottheit nicht als Text, sondern als visuelle Essenz zu betrachten, entdecken wir, dass es dort keine Gesetze, keine Regeln gibt. Es gibt ein Feuer, das ausbricht und nicht gelöscht werden kann, einen Gott, der furchterregend und überwältigend, barmherzig und gnädig ist, einen Gott, der den Tag verdunkelt und die Nacht erhellt, einen Gott, der sogar von einem Vater verlangen kann, seinen Sohn zu opfern. Die Offenbarung am Sinai ist also nicht nur der Gipfel der Ordnung. Sie ist auch ein chaotischer Ausbruch – ungezähmt, unbeherrschbar, schwindelerregend.

Das Gesetz ist eine Struktur des Wissens, aber wenn wir versuchen zu fragen, was das Gesetz wirklich ist – in jeder Kultur -, stossen wir schliesslich auf ein Geheimnis: Wenn etwas enthüllt wird, bleibt etwas anderes verborgen und widersetzt sich der Enthüllung. So erscheinen die Dinge in der Welt.

Ich möchte das Zählen des Omer als einen Prozess der Bewegung betrachten – nicht vom Chaos zur Ordnung, wie oft angenommen wird, sondern von der Ordnung zum Chaos. Nicht als ihr Gegenteil, sondern als ihre Entwicklung. Denn die Ordnung ist der fruchtbare Boden, auf dem das Chaos erblühen kann. Das Chaos ermöglicht den Durchbruch von Emotionen, das Entstehen von Kreativität und die Transformation. Wie der Frühling beginnt auch das Chaos zu blühen – und die hebräischen Buchstaben, aus denen sich ליבלוב (Blüte) zusammensetzt, sind dieselben Buchstaben, die auch in בילבול (Verwirrung) vorkommen.

Wenn ich mit Euch über den kommenden Monat nachdenke, möchte ich Euch Folgendes sagen: Lasst uns nicht nur wie auf ein endgültiges, rationales, geordnetes Ziel zugehen, sondern lasst uns auch Platz für das Chaos schaffen – für Offenheit, für Freiheit, für Wunder.

 

Eure,
Rabbi Avigail

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